THE RETICENT – THE OUBLIETTE

THE RETICENT

Titel: THE OUBLIETTE

Label: HEAVEN & HELL RECORDS / US-IMPORT

Spieldauer: 63:51 Minuten

Bereits in meinem (vollkommen berechtigt) enthusiastischen Review zum Vorgänger „On The Eve Of A Goodbye“ hatte ich die vollkommen ungezwungene stilistische Offenheit von THE RETICENT angepriesen. Ein Faktum ist dabei unumstößlich: Songwriter Chris Hathcock (ähem…) ist ein Genie, denn wiederum hat er zudem alle (!!) Instrumente auf „The Oubliette“ im Alleingang eingespielt (ja, singen kann er auch). Darüber hinaus ist er ein Künstler (2017 wurde er übrigens für einen Grammy als „Music Educator of the Year“ nominiert), der den Hörer auch textlich fordert. War „On The Eve…“ dem Selbstmord einer nahestehenden Freundin gewidmet, so steht hier, wie der Titel andeutet, die Alzheimer-Erkrankung eines Verwandten („Henry“ genannt) im Mittelpunkt. Ein Thema, das man ansonsten höchstens mit einer Band wie Pain Of Salvation in Verbindung bringt… In seiner fortschreitenden Relevanz zeigt es jedoch nur, dass Hathcock den Finger am Puls der Zeit hat, denn leider wird Demenz uns alle irgendwann in irgendeiner Form (be)treffen.

Musikalisch changiert „The Oubliette“ zwischen Extreme Metal („The Nightmare“), in amerikanischem Hook-Manna getränktem Alternative, mitunter symphonischen Prog-Passagen und jazzigen Versatzstücken. Spoken Word-Samples helfen dabei, die Storyline zu tragen. Grobe Anhaltspunkte sind weiter Opeth und Katatonia, ansonsten herrscht hier im besten Sinne des Wortes der Freigeist. Dabei ist für jene, die dem Plot folgen, immer transparent, warum Hathcock sich in bestimmten Momenten gezielt eines bestimmten Stilmittels bedient. Derlei Selbstreflexion wie erwähnt ungezwungen klingen zu lassen, ist neben der Empathie, mit der sich dem Sujet genähert wird (Titeltrack), die eigentliche Leistung dieses Albums.

„The Oubliette“ ist kein Werk, bei dem der Rezensent seriös Hörempfehlungen auszusprechen vermag. Es ist erneut ein Manifest der künstlerischen Freiheit, die sich durch die Fährnisse der menschlichen Existenz mit aller Macht Bahn bricht. Man höre nur das Ende… Dabei wühlt es auf, macht nachdenklich, vielleicht gar wütend. Echte Kunst eben. Wer den Aufwand betreibt, hier einzusteigen, widmet sich gerne gleich dem gesamten Backkatalog THE RETICENTs. Man wird reich belohnt!

Patrick Müller vergibt 8,5 von 10 Punkten