SIEGES EVEN – STEPS

SIEGES EVEN

Titel: STEPS

Label: Golden Core/ZYX

Spieldauer: 55:20 Minuten

VÖ: 18. Oktober 2024

Da die meisten hier mit Sicherheit mit der Materie vertraut sind, denke ich, man muss die Band SIEGES EVEN nicht vorstellen. Genausowenig ihr zweites Album, das sicher in den meisten Sammlungen meiner Kumpels zu finden ist. Bei mir aber, mea culpa, findet sich „Steps“ nicht. Bei Erscheinen habe ich mich nicht herangetraut. Mir ist ja schon „Images And Words“ nicht auf Anhieb reingegangen. Und, das stelle ich an dieser Stelle schon einmal fest, das ist im direkten Vergleich mit zu besprechendem Album noch fast eingängig. Wie auch immer, ich nutze jetzt einfach mal, dass aus dem Hause Golden Core/ZYX eine ansprechende Wiederveröffentlichung erscheint.

Vor ein paar Tagen, meine Frau schlafend auf dem Sofa, nehme ich mir die Zeit, mit Kopfhörern einen Versuch zu wagen, in die Welt von „Steps“ einzutauchen. In alter Prog-Tradition, ich denke nur an Rush, beginnt das Album, auf Vinyl die komplette Seite Eins einnehmend, mit einem Longtrack. Dieser füllt fast eine halbe Stunde. Eine nicht leicht zu nehmende halbe Stunde. Auf den ersten Hör findet sich kaum etwas „Gewohntes“, an dem sich das Ohr festhalten kann. Keine Struktur, keine Strophen, kein Refrain. Obwohl SIEGES EVEN wohl aus dem Thrash kamen, finden sich auch keine Thrash-Elemente. Dafür steckt irgendwie verdammt viel Jazz drin. Ich frage mich schon ein wenig, wie schaffte es der Sänger, sich seine Gesangspassagen draufzuschaffen? Ich gebe auf. Da muss ein zweiter Versuch her.

Zwei Tage später. Mit Kopfhörern und Decke auf dem Balkon. Neuer Versuch. Ich freue mich über die Geige im Intro. Ein paar krumme Rhythmen, die den Geist ins Stolpern bringen. Auf sehr atmosphärischen Klängen setzt der Gesang ein. Erste Konturen erkenne ich im Nebel. Das ist spielerisch und kompositorisch schon krass. Als Hörer muss man das schon wirklich hören wollen. Es ist eben Musik zum bewussten Hören. Nebenbei geht nicht. Und wenn man das hören will, dann ist es wirklich unterhaltsam und spannend. Da gibt es mittendrin überraschend schöne musikalische Momente. Also schön wie schön. Wie der Kuss einer Muse, wie eine klassische Madonna Raffaels, wie eine Melodie von Mozart. Andere Bands hätten daraus wohl versucht Hits zu machen. Hier sind es Augenblicke von Entspannung und Ruhe. Ich denke da etwa an das wunderbar perlende Klavier. Und bei etwa 20 Minute Spielzeit stelle ich fest, es gibt doch Passagen, die wiederholt werden, Riffs und Melodien, fast wie in einer Sonate.

Jetzt wage ich den nächsten Schritt. Ich widme mich der B-Seite von „Steps“. Die wird mit dem Titelsong eröffnet. Es scheint, obwohl die kürzeren Stücke erst einmal ähnlich „durcheinander“ wirken, sind sie doch etwas strukturierter. So klingt ´Steps´ wie eine Anlehnung an Rush, die im Sound hier doch immer wieder auftauchen. Und in ´Corridors´ klingt noch ein wenig die Thrash-Vergangenheit von SIEGES EVEN an. Oder man könnte an Mekong Delta denken.

„Steps“ ist ein verwirrendes Werk. Ein nervenzerreissendes. Und ein fesselndes. Eines, das mein 30 Jahre jüngeres Ich entweder total abgefeiert hätte. Oder gar nicht verstanden. Während viele Progger Bilder malen, die für mich impressionistisch klingen, bei SIEGES EVEN sehe ich andere Bilder. Ich denke etwa an Franz Marc, in dessen Welten sich blaue Pferde mit roten Rehen treffen. Oder sogar die tropfenden Farben eines Jackson Pollock, die scheinbar ohne Sinn und Verstand die Leinwand füllen.

Ganz sicher brauche ich noch ein paar Durchläufe. Aber mir ist hier schon klar, ich habe einstmals einen echten Klassiker unbeachtet gelassen. Für mich die Höchststrafe, für „Steps“ gibt es die volle Punktzahl.

Mario Wolski vergibt 10 von 10 Punkten