OPETH – THE LAST WILL AND TESTAMENT

OPETH

Titel: THE LAST WILL AND TESTAMENT

Label: REIGNING PHOENIX MUSIC (RPM)

Spieldauer: 50:56 Minuten

VÖ: 22. November 2024

2024 – Year of the growl! Das beweisen auch die Prog-Größen von OPETH mit ihrem am 22. November 2024 erschienenen 14. Studioalbum  „THE LAST WILL AND TESTAMENT“ nahezu vorzüglich. Jedenfalls hat mir das Album gehörig das Gehirn massiert und ich habe mich wirklich sehr darüber gefreut, dass sich bei „THE LAST WILL AND TESTAMENT“ ein altbekanntes, aber in letzter Zeit eher seltenes Bedürfnis nach WEITERHÖREN eingestellt hat. Dieses Album ist mit jeder Note anders, überraschend und doch altbekannt.  OPETH haben in eine Zeitkapsel gegriffen und die wildesten Elemente ihrer frühen Jahre mit der reifen Weisheit ihrer späteren Werke verschmolzen. Wer die Rückkehr der charakteristischen Growls vermisst hat, wird bei diesem Album voll auf seine Kosten kommen. Mikael Åkerfeldt erinnert uns daran, warum OPETH zu den Pionieren des Progressive Metal zählen. Die Growls sind aber nicht nur ein nostalgischer Rückgriff, sondern werden gekonnt in den modernen Sound der Band integriert. OPETH wären aber nicht OPETH, wenn sie sich auf eine einzige Klangfarbe beschränken würden. Neben den brachialen Metal-Parts finden sich auch wieder die typischen Balladen, die mit ihrer Schönheit und Verletzlichkeit berühren. Die instrumentalen Passagen sind so komplex und vielschichtig, dass man sich beim Hören wie in einem musikalischen Labyrinth fühlt. Und dann wäre da ja auch noch die Zusammenarbeit mit Ian Anderson von Jethro Tull, die dem Album stellenweise eine unerwartete Folk-Note verleiht.  Ja, ja: So ein Flötist in ner Metalband kann schon was. So sind Andersons markante Töne auf ‚§4‘ und ‚§7‘ zu hören, während er zu ‚§1‘, ‚§2‘, ‚§4‘ und ‚§7‘ auch als Erzähler beitrug.

„THE LAST WILL AND TESTAMENT“ ist ein Konzeptwerk, das thematisch tiefgründig ist. Es versetzt die Hörerschaft in die Zeit nach dem ersten Weltkrieg und erzählt die Geschichte eines wohlhabenden, konservativen Patriarchen, dessen letzter Wille bzw. dessen Testament schockierende Familiengeheimnisse zutage bringt. Die Songs spiegeln dabei vielerlei Geständnisse aus Sicht jenes Patriarchen wider, beziehen aber auch die Reaktionen seiner Zwillingskinder mit ein. Dazu kommt die Anwesenheit eines an Polio erkrankten Mädchens, um das die Familie sich kümmert. Den Auftakt des Ganzen bildet dabei die Verlesung des letzten Willens des Vaters in dessen Villa. Unter den Versammelten befindet sich auch das erwähnte junge Mädchen, das trotz seines Waisendaseins und seiner Polioerkrankung von der Familie großgezogen wurde. Dessen Anwesenheit bei der Testamentseröffnung lassen Verdächtigungen und Fragen unter den Zwillingen aufkommen.

„THE LAST WILL AND TESTAMENT“ wurde von Åkerfeldt geschrieben, während er für die Texte Klara Rönnqvist Fors (THE HEARD, ex-CRUCIFIED-BARBARA) mit ins Boot holte. Aufgenommen wurde „The Last Will And Testament“ gemeinsam von Åkerfeldt und Stefan Boman (GHOST, THE HELLACOPTERS), der mit Joe Jones (KILLING JOKE, ROBERT PLANT) und OPETH auch für die technische Umsetzung verantwortlich war. Dem folgenden Abmischprozess nahmen Boman, Åkerfeldt und die übrigen OPETH-Musiker sich in den Atlantis Studios sowie den Hammerthorpe Studios (Stockholm, Schweden) an. Die auf „The Last Will And Testament“ zu hörenden Streicherarrangements wurden von Åkerfeldt und seinem wiederkehrenden Prog-Freund Dave Stewart (EGG, KHAN) geschrieben, während Stewart auch deren Aufnahmen in den Londoner Angel Studios leitete. Der stets parat stehende Künstler Travis Smith gestaltete bereits zum elften Mal ein Cover für die Band. Dieses Mal schuf er ein schauriges Bild, das an Stanley Kubricks berühmt-berüchtige „Overlook Hotel“-Fotografie erinnert. Miles Showell (ABBA, QUEEN) vollzog das Mastering des Albums, auch das der Vinyl-Fassung, in den Londoner Abbey Road Studios.  Neben Anderson ist zudem EUROPEs Joey Tempest als Hintergrundsänger auf ‚§2‘ vertreten. Åkerfeldts jüngste Tochter, Mirjam Åkerfeldt, schließt die Gästeliste mit ihrer geisterhaften Stimme auf ‚§1‘ ab.

„THE LAST WILL AND TESTAMENT“ fesselt durchweg, ist innerlich und äußerlich atemberaubend. Es in seiner Größe zu begreifen erfordert sicher mehrmaliges Hören um alle Facetten entsprechend würdigen zu können. Wer hier eingängige Melodien und sich stets wiederholende Refrains zum Mitsingen sucht ist wohl recht lange unterwegs. Es dominiert die Abwechslung, die dem Ganzen eine nicht ganz runde aber dennoch stimmige Note verleiht. Prog as Prog can – Meisterklasse.

Wie die Band über all die Jahre viele Fans in ihre verhängnisvollen Arme geschlossen hat, so lösen die Schweden auch diesmal ihr Versprechen ein, mit großartiger Musik eine packende Geschichte zu erzählen – und das auch (wieder) mit Growls. Bei mir ist es auf Anhieb in den oberen Rängen des Jahres gelandet und ich schließe mich den Worten von Åkerfeldt höchstpersönlich gerne an:

„Ich neige dazu, das ‚Ungewöhnliche‘ jeglichem ‚Offensichtlichen‘ vorzuziehen, obgleich ich damit zu einer Minderheit angehören scheine, aber damit kann ich leben.“

Judith Kroll vergibt 9,5 von 10 Punkten