LONG DISTANCE CALLING
Titel: HOW DO WE WANT TO LIVE?
Label: INSIDE OUT / SONY
Spieldauer: 52:57 Minuten
Die Münsteraner sind schon lange in der Spitzengruppe der deutschen Musik-Avantgarde etabliert. Mit „How Do We Want To Live?“ haben sie sich erneut eine Frischzellenkur verpasst und widmen sich anhand der (sicher nicht eben neuen) Frage, an welcher Schwelle die Menschheit und die von ihre geschaffene künstliche Intelligenz in einem hochtechnisierten Zeitalter wohl stehen mögen (man konsultiere das drastische Video zu „Voices“), nunmehr verstärkt elektronischen Klängen und Samples, ohne ihre Wurzeln im Alternative und Rock auch nur annähernd zu verleugnen. Vielmehr stehen die Beats Janosch Rathmers verstärkt im Vordergrund und bieten die Basis für die auch ohne Gesangsunterstützung (Ausnahme: Eric A. Pulverichs schöner Auftritt in „Beyond Your Limits“) ebenso hochemotionalen wie innovativen Klangexperimente seiner Mitstreiter – derart lädt ein Stück wie „Immunity“ (großartiger Bass!) gleichzeitig zum Schwelgen und Schwofen ein. Auch die Gitarrensounds wurden offenbar computerisiert, ein Umstand, der hier jedoch aufgrund der allgemeinen Klangästhetik des Albums beileibe nicht als Störfaktor angeführt werden soll; vielmehr sind sich LONG DISTANCE CALLING bewusst, dass solcherlei etwas kälteren Klänge die Facetten ihrer Musik momentan besser akzentuieren helfen. Die Dynamik des Albums ist ebenso fordernd wie filigran: atmosphärische, verspielte und zupackende Parts halten sich gefühlt exakt die Waage. Da auch das Artwork zum Gesamtkunstwerk beiträgt, vermag man LONG DISTANCE CALLING nur zu einem weiteren Post Rock-Meilenstein gratulieren; wieder einmal ist man der Konkurrenz dabei einen Schritt voraus. Ich habe schon vor geraumer Zeit den Pink Floyd-Vergleich bemüht und tue dies hier wieder: zwar ist der rigide und unerbittliche Genius Roger Waters‘ unerreicht (zumal er auch die lyrische Komponente lieferte), jedoch findet sich auch hier jener grenzüberschreitende Ansatz, der wahre Kunst an immer neue Ufer treiben lässt. Unterm Kopfhörer ein Hochgenuss. Und wenn am Ende die Menschheit als Virus dasteht, mag man noch nicht einmal widersprechen…
Patrick Müller vergibt 9 von 10 Punkten