LOGOS – BOKEH

LOGOS

Titel: BOKEH

Label: Andromeda Relix

Spieldauer: 88:31 Minuten

VÖ: 17. November 2023

LOGOS, eine Prog Rock Band aus dem norditalienischen und wunderschönen Verona, verfolge ich schon seit ein paar Jahren. Erstmals begegnete ich der Truppe im Sommer 2020, als ihr damals 4. Album erschien, ´Sadako E Le Mille Gru Di Carta´. Das beschäftigte sich mit den Folgen des Atombombenabwurfs über Hiroshima anhand eines Mädchens, das während ihres Klinikaufenthalts versuchte eintausend Kraniche aus Papier zu falten. Seitdem verfolge ich die Karriere von Luca Zerman (Tasten), Alessandro Perbellini (Drums), Fabio Gaspari (Bass und Gesang) und Claudio Antolini (noch mehr Tasten) sozusagen rückwärts. Denn ein Jahr später beglückten sie ihre Fans mit der Wiederveröffentlichung des direkten Vorgängers ´L’Enigma Della Vita´ in einer luxuriösen Ausgabe, die durch Liveaufnahmen bei diversen Festivals veredelt wurde.

Seitdem schien es ruhig zu sein um LOGOS. Wohl auch aufgrund der Einschränkungen, die Italien ebenso trafen wie uns, hat das Quartett viel Zeit im Studio verbracht, um ihre ganz alten Lieder zu bearbeiten. ´Bokeh´ versammelt auf zwei CDs nämlich die beiden ersten Alben der Band. Einmal ist das das selbstbetitelte Debüt von 1998, das wohl schon lang nicht mehr zu bekommen ist. Darauf folgte 2001 ´Asrava´, das bisher nur als download erhältlich war.

Es war also Zeit, die Fans zu verwöhnen. Mit einem Blick zurück. Dazu passt der Titel. ´Bokeh´ ist ein Begriff aus der Fototechnik. Der stammt vom japanischen „Boke“. Das bedeutet „unscharf, verschwommen“. Sicher jeder kennt es. Auf Fotos wird der Teil, der nicht im Fokus der Kamera liegt, verschwommen dargestellt. Das liegt, vereinfacht gesagt, an der Technik der Optik, hat aber ästhetische Auswirkungen. Schauen wir jetzt zurück in die Vergangenheit, sehen wir viele Erinnerungen auch scharf. Andere empfinden wir eher als unscharf, vielleicht auch perspektivisch geschönt. Ähnlich wird es der Band gegangen sein. Darum also der Titel.

Die erste CD enthält das Debüt. ´Logos´ wurde im Frühjahr 1998 aufgenommen. Es ist sogar faktisch ein Livealbum, da es im Studio live eingespielt wurde. Für die heutige Neuausgabe wurde das Material restauriert, digitalisiert und remixed. Dennoch ist der Charme des gemeinsamen Musizierens immer spürbar. Schon der Opener, wie ein breiter Fluß bahnt sich ´Il Grande Fiume´ seinen Weg. Und in seinen Wassern finden sich die Quellen, aus denen er sich und seine Musik speist. Wir haben es hier, beim allerersten zu hörenden Song von LOGOS, mit einem legitimen Erben italienischer Prog-Kunst zu tun. Man hört und spürt die Wärme, die Melodien, die Kenner schon seit der Premiata Forneria, der Banco und Le Orme liebt. Auf der anderen Seite der Medaille findet sich ´direkt neben dem 18-minütigen Opener ein kurzer, sehr harmonischer akustischer Ruhemoment, ´Arc En Ciel´ der erste Teil eines Zweiteilers.

Wer schon einmal barfuß genießerisch über eine Wiese gelaufen ist, weiß, ein Weg durch Grün kann ein Tor ins Universum sein. Und genau dazwischen bewegt sich klanglich auch ´Sentiero Nel Prato, Porta Nell’Universo´. Schwebende Melodien, ein hallender Flügel, der Duft von Gras und der Klang der Sterne – ich gerate ins Schwelgen… Was sich auf dem Rest der ersten CD fortsetzt.

Und auf der zweiten. Hier haben LOGOS die Lieder noch stärker thematisch miteinander verbunden. Die ´Asrava´ sind nach der buddhistischen Lehre die vier negativen Einflüsse, die den Menschen daran hindern, Erleuchtung zu erlangen. Die remasterte 2023er Version klingt etwas zeitgemäßer. Die Musik hat sich ein wenig weiterentwickelt, LOGOS sind düsterer und schwerer geworden. Noch nicht einmal im Sinne von Heavyness, vielmehr haben sich bedrohliche Untertöne eingeschlichen. Nicht verwunderlich bei dem Thema. Wenn ein Instrumental benannt ist nach ´Ezra Pound´,  einem amerikanischen Literaten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der Teile seines Lebens im Italien Mussolinis verbracht hat, aus Sympathien für den italienischen Faschismus, dann muss es einfach so klingen wie es klingt. Auf ´Asrava´ regiert weniger der Schönklang. Aber, die italienische Rockmusik kennt auch düstere Truppe wie Area (´Arbeit Macht Frei´)  oder die Soundtrack-Genies Goblin.

Genauso düster und nachdenklich geht es weiter. ´99´ dreht sich um Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit. „Potrei svegliarmi nel ’99 e trovarmi steso sopra all’ amaca nel tuo giardino di casa, e scoprire di essere rimasto l’ unico“ Ich könnte 1999 aufwachen und mich in einer Hängematte in deinem Garten wiederfinden und feststellen, dass ich der Einzige bin, der übrig geblieben ist. Welch ein Schrecken, der hier vertont ist.

Als ich kurz Kontakt hatte mit Claudio, fragte er, wie ich ´Bokeh´ finde. Es ist ein Abenteuer. Es ist eine Reise. Eine Reise, die in unbekanntes Land führt, in eine ´Terra Incognita´. Diese Doppel-CD ist für mich wahrscheinlich die wichtigste Wiederveröffentlichung des Jahres. LOGOS ist eine Band die Traditionen weiterführt. Sie schenkt uns Musik zu hören, zum denken und genießen.

Mario Wolski vergibt 10 von 10 Punkten