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PARADISE LOST – Musik, Nostalgie & eigenartige Zeiten

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PARADISE LOST haben vor kurzem ihr sechszehntes Studioalbum “Obsidian“ veröffentlicht, das die Band aus einer völlig neuen aber auch vertraut klingenden Perspektive zeigt. Grund Genug, um mit Leadgitarrist Greg Mackintosh über Musik, Nostalgie und eine eigenartige Zeit für alle zu reden:

Hi Greg, wie geht es dir in der momentanen Situation?

 

Gut so weit, ich mache viel Promo-Arbeit, das lenkt ab. Am Anfang war ich vielleicht etwas apathisch, zu viel Netflix und Rotwein- wie alle anderen auch. Ich habe manchmal den ganzen Tag vergammelt. Ich denke, dass liegt daran, dass wir keine Ahnung hatten, wie es weiter geht und auch kein Ziel hatten.

Aber ich selbst bin jetzt auch nicht mehr wirklich betroffen, das übliche „Social Distancing“ trifft mich nicht so hart, weil ich ohnehin nicht sehr viel ausgehe. Mein Sohn hatte aber den Virus. Schon sehr früh im März aber er hat sich schnell erholt.

Ich bin jetzt auch manchmal schon wieder im Studio und spiele mit neuen Ideen rum. Mal gucken wann wieder etwas passieren kann. Ich hoffe, dass alles wieder normal wird und wir uns nicht auf Dauer an diese Situation gewöhnen müssen, wie manche das vorhersagen. Nichts schlägt das Gefühl von einem Live-Gig. Die Atmosphäre, das Zusammensein mit Freunden, die Energie, einfach ein Paar Bier zusammen zu trinken. All das fehlt bei einer Streaming-Show.  

  

In Deutschland gibt es Proteste gegen die Maßnahmen und jede Menge Verschwörungstheorien. Wie ist das bei euch?

Ja, hier in England auch. Es gibt so viele Stories darüber und manchmal muss die Polizei halt Gruppen auflösen. manchmal auch nur einfache Touristen. Auf ein gewisse Weise, kann ich sogar die Proteste verstehen. Immerhin wird einem die Freiheit genommen aber was soll man machen? Auf jeden Fall versuche ich nicht mehr so viele Verschwörungsvideos zu sehen oder diese Bücher zu lesen.“

 

Lass uns mal über Musik reden. “Obsidian“ ist noch nicht sehr lange raus, wie sind denn die Reaktionen bisher?

Viel besser als gedacht. Ich bin normalerweise immer erstmal sehr abwartend wenn eine neue Platte rauskommt. Weißt du, jede unserer Platten hat die Meinungen irgendwie polarisiert. Wie unsere letzte:“Medusa“.  Aber es sieht so aus, als ob wirklich jeder “Obsidian“ mag … Ich traue mich gar nicht das laut auszusprechen. Klopf mal auf Holz. Echt seltsam, vielleicht erreichen wir nach so langer Zeit als Band noch ein ganz neues Level.“

 

 

Woher kommt denn der musikalische Wandel, hin zu den 80er Gothic- oder sogar Darkwave Sounds?

Beim Songwriting war mir schon klar, dass ich wieder mehr Abwechslung in den Tracks brauchte. Alleine schon, um es für uns interessant zu machen und der „heavy Style“ war mit “Medusa“ auch einfach ausgereizt. Außerdem habe ich zu der Zeit der Tatsache nachgetrauert, dass es einfach keine guten Goth-Clubs mehr gibt. In den 80ern war ich immer im „Adam and Eve“ Club in Leeds. Da gab es eine Punk-Ecke, eine Metal-Ecke und einen Gothic-Teil. Die Leute sind immer in ihrer “Abteilung“ geblieben aberauch wenn es sich kaum vermischt hat, zumindest hat man all diese Musikrichtungen gehört. Heute gibt es sowas hier nicht mehr. Ich habe mich gefragt, was ich daran eigentlich so vermisse? Musikalisch war Vieles vom Bass und dem Schlagzeug dominiert und die Gitarren schwebten wie eine Art Teppich darüber, der ein paar Sprenkel hinzufügte. Ich dachte, das wäre interessant für uns, nicht immer so Riff-orientierte Songs zu schreiben.

Es war aber nicht nur die Musik in den „good old days“ oder?  

Nein, die alte Szene ist völlig verschwunden. Früher gab doch an jeder Ecke irgendeinen Club für jede Subkultur. Heute ist nichts mehr davon übrig. Ich glaube, in London gibt es noch EINEN. Ich verstehe das nicht, denn offenbar gibt es ja genug Leute, die das Zeug noch hören. Sonst würden wir keine Platten verkaufen und es gäbe keine Konzerte und Festivals. Irgendwie fehlt heute die Leidenschaft, die es früher gab. Zumindest gilt das für die Insel. Deutschland scheint da noch eine lebendigere Szene zu haben.

 

Klingt “Obsidian“ deshalb wie eine „Best-Of“ Mischung aller alten PARADISE LOST Elemente.

 Ja aber wir hatten das nicht als Plan. Wir haben einfach unsere Grenzen verschoben. Eigentlich gibt es gar keine Grenzen, solange es nicht plötzlich „happy“ klingt. Uns war das gar nicht so klar aber unser Label hat auch schon gesagt: Das neue Material klingt wie eine musikalische Biografie der Band. Im Nachhinein sehe ich das auch aber jede Platte ist immer eine Momentaufnahme der Entstehungszeit.

 

Also bist du gerade in der Nostalgiephase?

Nostalgie? Schon irgendwie aber manche Songs sind auch von neuen Sachen inspiriert. Ich sehe das Musik machen als eine Art Lernkurve an. Ich schaue immer was ich gerade irgendwo lernen kann. Oft sind es Undergroundbands, die mich auf Ideen bringen. Ich bin gerade total von “Bandcamp“ besessen. Da findest du immer neue spannende Sachen. Viel mehr als im Mainstream.

 

Was inspiriert dich noch, außer der Musik?

Einfach alles. Das Leben, deine Umgebung, Erinnerungen an deine Vergangenheit, wie du aufgewachsen bist, Bücher- ich hab jetzt während des Lockdowns so viel gelesen wie noch nie zuvor –  Die Band ist seit über 30 Jahren zusammen. Ich denke das liegt daran, wie wir aufgewachsen sind. Wir haben alle die gleiche Nordenglische, working-class Art zu denken und zu leben. Wie unsere Eltern auch. Die hatten auch alle schon unsere Art von selbsterniedrigendem Humor und Lebenseinstellung. Das beeinflusst uns bis heute. Ich nenne das, unsere „Green and Grey“ Erziehung. Der Ausdruck stammt von NEW MODEL ARMY, die seit 20 Jahren neben uns proben. Sie haben einen Song der so heißt. Da geht’s um die Art von Städten in denen wir aufgewachsen sind. Alte heruntergekommene Industriestädte die langsam zerfallen, umgeben von wirklich schönen grünen Tälern und Wäldern. Ich finde den Ausdruck einfach so poetisch und das Bild wird überall auf der Welt verstanden.

 

 

Es klingt schon wieder nostalgisch. Ist „Alter“ eigentlich ein Thema für dich?

Nein, überhaupt nicht. Ok man verändert sich und man sieht viele Dinge einfach gelassener als früher. Es ist nicht so wie einige sagen, dass einem alles egal ist aber man akzeptiert mehr Dinge und verschiedene Meinungen. Außerdem sieht man immer und immer wieder wie Menschen die gleichen Fehler machen und du weißt inzwischen, dass du es nicht ändern kannst. Aber es gibt mir was worüber ich schreiben kann. (lacht)

 

PARADISE LOST gibt es jetzt seit 32 Jahren. Wenn du zurückschaust, was hat dich am meisten überrascht?

Wie schnell alles vergangen ist. Ich weiß, dass das ein Klischee ist aber es stimmt. Wir haben immer in einem Zweijahres-Rhythmus gearbeitet. Ein Jahr für die neue Platte und ein Jahr auf Tour.“Obsidian“ ist das sechszehnte Album- also 32 Jahre. Das ist einfach unglaublich. In der Zeit hat sich auch die Musikindustrie völlig verändert. CDs sind fast verschwunden, jeder streamt seine Musik nur noch. Das Internet bedeutet heute alles … ironischer weise rettet das Internet uns gerade in der Krise. Wir haben in der Zeit jede Menge gute und schlechte Veränderungen miterlebt. Die Welt dreht sich einfach weiter und wir müssen uns anpassen. Die letzten paar Monate waren vielleicht die größte Veränderung zu unseren Lebzeiten. Zumindest auf einer gesellschaftlichen oder sogar der weltweiten Ebene ist es wohl so für unsere Generation.

 

Irgendwie passend, dass ihr jetzt  mit “No Celebration“ auch eine PARADISE LOST Biografie herausbringt.

In den U.S.A. ist sie schon im November erschienen aber die Übersetzungsarbeit dauert halt seine Zeit, deshalb erst jetzt.  „Medusa“ ist vom „Decibel Magazine“ damals zum Album des Jahres gewählt worden und David Gehlke, der schon für Noise Records eine Art Bio geschrieben hatte, kontaktierte uns deshalb. Das war nicht die erste Anfrage aber da gerade das 30jährige Bandjubiläum anstand, dachten wir, es wäre ein guter Zeitpunkt. Es war wie eine wöchentliche Therapiesitzung , mit jemandem wöchentlich für ein paar Stunden zu reden. Ich konnte mir vieles von der Seele reden und rumjammern (lacht) Wirklich, ich vermisse das irgendwie. Ich finde er hat einen wirklich guten Job gemacht. Es ist kein Nikki Six Buch, in dem die ganze Zeit über Drogen und Orgien rumgelogen wird. Nein, es ist ein viel mürrischeres, dunkleres Buch über ein paar Jungs aus einer Arbeitergegend geworden, die es irgendwie geschafft haben in einer ziemlich populären Band zu landen du weltweit auf Tour zu gehen.

Bei den Interviews dazu sind sehr viele Erinnerungen wieder hochgekommen. An Fans, Interviewpartner, Roadies, Leute die einfach dazu gehörten und denen wir viel verdanken. Das Buch heute zu lesen ist wirklich ein bizarre Erfahrung. Jemand anderes schreibt aus seiner Perspektive über dein Leben. Manchmal denkst du “Mann, war ich ein Arsch damals“ oder du erfährst wirklich etwas neues über dein Leben, weil du in einer Situation damals gerade nicht da warst. Seitdem versuche ich auch manche Dinge etwas lockerer zu sehen. Ich glaube , manchmal habe ich vieles übertrieben eng gesehen. „Christ“ ich habe damals echt einige Brücken abgefackelt.

Ok, heute kann ich es nicht mehr ändern aber bei manchen Sachen, denke ich, dass ich netter hätte sein sollen oder auch mal eine andere Perspektive akzeptieren könnte. Das wäre doch in gut Spruch für meinen Grabstein!: „I could have been nicer“

 

Sven Bernhardt