LIFE ARTIST, die in diesem Jahr mit „Lifelines“ ein formidables Comeback auf Ragnarök Records veröffentlicht haben, sind wohl eine der positivsten Überraschungen 2021. Wie es dazu kam erklärt Sänger Marco Witte…
Als ich Ende 1991 kurz vor dem Studiotermin zu „Diary Of Inner Visions“ ausgestiegen bin, war Ecki (Anm: Dirk Eckhard), der damals noch Bassist und Frontmann der Dortmunder Formation Rhûn war, mein Nachfolger als Sänger. Holzi (Anm.: Ingo Holzhauer) wiederum, damals der Life Artist-Bassist, unterstützte mich 2011/12 in meiner kleinen Web-Agentur, als wir im Internet lasen, dass sich Psychotic Waltz, mit denen wir in den 90ern ja öfter getourt sind, wieder reformiert haben. So kam die ganze Idee zu einer Reunion von LIFE ARTIST überhaupt auf die Welt. Was anfangs eher eine theoretische Spinnerei von Holzi und mir war, nahm dann 2013/14 langsam erste Konturen an, denn ich fing zu der Zeit an, die ersten Songideen zu komponieren und Holzi trug auch einige eigene Ideen bei. Schließlich nahm ich dann Kontakt zu Ecki und unserem alten Gitarristen Frank Jauernick auf, mit denen ich über 20 Jahre gar keinen Kontakt hatte. Nach ein paar Telefonaten und persönlichen Gesprächen willigten die beiden ein, bei der Reunion mitzuwirken. Da Holzi heute hauptsächlich als Toningenieur aktiv ist, bot es sich quasi an, dass Ecki den Basspart übernehmen würde. Von den heutigen Life Artist sind also vier von fünf Leuten schon in den 90ern dabei gewesen.
Zu denen sich Andreas Tegeler (u.a. Bleeding) als Drummer gesellt. Gerade die Vocalarrangements sind für mich eine ganz große Stärke der „neuen“ LIFE ARTIST. War Euch dieser Abwechslungsreichtum beim Gesang besonders wichtig?
Das freut mich sehr zu hören. Genau das schwebte mir auch vor. Um es mal ganz deutlich zu sagen: Damals wie heute bin ich nicht gerade das, was man als einen überdurchschnittlich guten Sänger bezeichnen könnte. Mein einziges Plus oder Alleinstellungsmerkmal war und ist ein gewisses Maß an Originalität, eine ungewöhnliche Stimmfarbe und damit verbunden ein gewisser Wiedererkennungswert. Ähnliches gilt auch für Ecki, mit dem ich mir ja bei zwei, drei Songs den Gesang teile. Deshalb habe ich da viel experimentiert ausprobiert, mit Chören, mehrstimmigen Harmonie-Arrangements und so weiter. Da ich via Facebook viele Bekanntschaften mit Leuten aus der Metal- und Progszene gemacht oder neu belebt hatte, hatte ich auch immer wieder Gespräche mit anderen Sängern. Und so kam es dann schließlich, dass ich Andreas Lohse (ex-Moment Of Detonation), John Knight (SynaptiK) und Haye Graf (Bleeding) verschiedene Songs Guest-Spots angeboten habe. Mit ihren Stimmen und eigenen Klangfarben bereichern sie das Album meiner Meinung nach sehr. Wie bei einem guten Gericht habe ich versucht, die Vocals stimmig zu arrangieren und mit ein paar speziellen Gewürzen zu versehen. Freut mich, wenn der Plan offensichtlich halbwegs gelungen ist.
Auf ‚Lifelines‘ sprengt Ihr fast alle Genregrenzen. Habt Ihr von Anfang an gesagt, dass alles erlaubt ist und seid komplett offen an das Projekt herangegangen oder wolltet Ihr auch Eure alten Fans aus den Neunzigern irgendwie abholen?
Eine sehr gute Frage, die ich kaum in ein, zwei Sätzen beantworten kann. Heavy Metal, insbesondere progressiver Metal, ist ja quasi unser Ursprung, unser Heimathafen. Von daher ist das auch weiter das Fundament, auf dem alles andere errichtet ist. Aber wir sind auch von jeher open minded und sehr offen für andere Stilrichtungen. Kompositorisch habe ich eine Prise Djent und klassischen Progrock reingebracht, Frank mit seinem Background als studierter Musiker die Jazz-, Fusion- und klassischen Elemente. Holzi wiederum ist eine Groove-Maschine und Ecki eher der Metal- und Hardcore-Haudegen (lacht!). Und dabei ist halt das herausgekommen, was herausgekommen ist. Das Ganze war aber ein absolut organischer Prozess und nichts, was wir am Reißbrett geplant haben. Klar, wir wollten nicht etwas vollkommen anderes machen, als in den Neunzigern, aber „No Limits“ war ja schon immer irgendwie unser Motto. Wir machen das, worauf wir Bock haben und das Ziel war von Anfang an, dass wir das, was am Ende dabei herausgekommen ist, selber mögen. Unabhängig davon, ob die Leute das Album lieben, hassen oder ignorieren.
Wie kann man sich den Songwriting- und Produktionsprozess vorstellen? Wurden da in erster Linie Files hin und her geschickt oder habt Ihr Euch eher gemeinsam im Proberaum und im Studio verschanzt?
Oh ja, es wurden Unmengen von Files hin- und hergeschickt. Es war echt abartig (lacht!). Wir wohnen ja alle an unterschiedlichen Wohnorten und haben genau null Mal zusammen geprobt. So gesehen sind wir aktuell genau genommen ein reines Homerecording-Projekt. Wie erwähnt habe ich einen Großteil der Songs geschrieben und diese dann an die anderen Jungs geschickt. Am Ende klingen die Stücke aber trotzdem völlig anders als die ursprünglichen Entwürfe, jeder konnte hier seine eigenen Ideen einbringen. Insbesondere Frank und Holzi waren sehr aktiv, teilweise wurden ganze Parts neu geschrieben oder anders arrangiert, was in Sachen Kreativität unheimlich viel vorangetrieben, sich auf der anderen Seite aber natürlich negativ auf den zeitlichen Aspekt des Produktionsprozesses ausgewirkt hat. Unter anderem deswegen hat es auch so verdammt lange gedauert, bis das Album endlich fertig geworden ist. Da war ich mit meinen zwischenzeitlichen Ankündigungen doch immer etwas sehr optimistisch, das war ja schon zu einem Running Gag geworden. Wenn Du nicht zusammen im Proberaum gemeinsam an Songs arbeiten kannst, ist das halt schon ziemlich tricky. Zudem sind wir halt alle zeitlich viel mehr eingebunden als in unseren Zwanzigern. Wir haben unsere Jobs, Familien, Kinder usw. und daher steht auch viel weniger Zeit für unsere musikalische Leidenschaften zur Verfügung.
Das Album beinhaltet acht Tracks, von denen zwei kurze Instrumentalstücke sind. Was steckt hinter Euren Songs? Sind es vertonte Geschichten, die vielleicht sogar durch ein Konzept miteinander verbunden sind?
Ein Konzeptalbum ist „Lifelines“ nicht – auch wenn ich ein solches anfänglich im Sinn hatte – es wird aber durch den Begriff „Lifelines“ im Sinne von Lebenslinien lose zusammengehalten. Die Stücke sind manchmal fiktive Geschichten, enthalten aber auch viele persönliche Bezüge und Reflexionen über die Irrungen und Wirrungen, die das Leben so mit sich bringt. Das Intro z.B. hat mit meinem verstorbenen Vater und seinem eher tragischen Lebensabend zu tun, „Of Lambs And Liars“ ist etwas angelehnt an den Plot von „Operation: Mindcrime“ und handelt von ideologischen Heilsversprechungen, Verführung und Fanatismus und das Titelstück „Lifelines“ ist zum Beispiel hinter seinen ganzen Bildern und Umschreibungen eine Geschichte von verlorengegangener und wiedergefundener Freundschaft, was auch ein bisschen was mit dem zu tun hat, was mir persönlich an dem Projekt die größte Freude bereitet hat, ist, dass wir nicht nur gemeinsam musikalisch etwas auf die Beine gestellt haben, sondern wir uns nach teilweise jahrzehntelanger Funkstille als Freunde wiedergefunden haben. Bevor ich aber zu nostalgisch werde: Textlich wie musikalisch ist das Album ein bisschen wie ein nachdenkliches Mixtape über das Leben, mit all seinen schönen und schaurigen Momenten.
Im großartigen Cover von Thomas Buchta scheinen sich einige der Titel, wie z.B. ‚Tightrope Walker‘, wiederzufinden. Wie kam die Zusammenarbeit mit dem bekannten Künstler Herr Buchta zustande?
Auch wenn ich selber ein großer Skeptiker der so genannten sozialen Netzwerke bin, muss ich hier schon wieder Facebook erwähnen. Es kommt eben auch darauf an, wie man es gebraucht (lacht!). Ich habe es auch immer als Medium zum Netzwerken begriffen und habe so viele neue, interessante Leute mit ähnlichen Interessen und Anschauungen kennengelernt. Bei Thomas war es nicht anders. Ich wusste z.B., dass er viel für Psychotic Waltz fotografiert hat und selbst Sänger einer deutschen Progressive-Combo (Vernissage) war. Mir haben seine digitalen Collagen und Kompositionen sehr gefallen und irgendwann haben wir uns bei einem Konzert kennengelernt. Als es dann mit dem Album in die heiße Phase ging, hatte ich gleich Thomas für die Umsetzung des Cover-Artworks im Sinn, weil ich wusste, dass er verstehen würde, was mir gedanklich vorschwebte. Und das hat er dann ja auch perfekt umgesetzt. Ich bin super zufrieden mit dem Cover, dass genau das visualisiert, was ich in meiner vorherigen Antwort ausdrücken wollte.
Das Album erscheint bei Ragnarök Records, einem Underground Label, das eher für internationale Thrash-Veröffentlichungen bekannt ist. Wie kam es zu der Zusammenarbeit?
Stephan Becker ist mit Ragnarök ja quasi schon seit Jahrzehnten fester Bestandteil der hiesigen Metal-Underground-Szene. Irgendwann stellte Ecki erstaunt fest, dass Stephan und er bei dem gleichen Arbeitgeber beschäftigt sind (lacht!). Und so kam halt eins zum anderen. Wir fahren jetzt schon seit Jahren gemeinsam auf das „Keep It True“ Festival, ich helfe Stephan mit der Ragnarök Records-Website. So baut man natürlich, gerade wenn man sich gut versteht, ein Vertrauensverhältnis auf. Unser Ziel war es nie, nochmal groß durchzustarten, mit großem Label, Touren etc. und somit war ein kleines, feines Underground-Label wie Ragnarök Records viel eher passend für das, was uns vorschwebte. Stephan hat eine Engelsgeduld mit uns bewiesen und uns gleichzeitig völlige künstlerische Freiheit ermöglicht. Das passte einfach, auch wenn der Fokus bei Ragnarök mehr auf exotischem Thrash-Metal liegt. Da Stephan auch sehr aufgeschlossen anderen Stilrichtungen gegenüber ist, sind wir halt quasi ein neuer Farbtupfer im Ragnarök-Katalog und hoffen, in ein paar Monaten feststellen zu können, dass das eine Win/Win-Entscheidung für alle Beteiligten war. Aber es ist ja schließlich auch nicht gesagt, dass „Lifelines“ unsere letzte Veröffentlichung sein wird. Die Zukunft von LIFE ARTIST ist noch ein unbeschriebenes Blatt Papier.
Wenn ein gestandener Kerl wie Marco die Zukunft seiner 1989 gegründeten Band so einschätzt, vermittelt das in diesen unsicheren Zeiten viel Zuversicht. Hört Euch „Lifelines“ an und lasst Euch inspirieren, Eure eigenen Geschichten (neu) zu schreiben. Es lohnt sich…