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DIRK ZÖLLNER, MANUEL SCHMID, ANDRÉ GENSICKE, MAREK ARNOLD
Titel: DIE SCHÖNSTEN BALLADEN AUS DEM LAND VOR UNSERER ZEIT
Label: SPV
Spieldauer: 116:03 Minuten
VÖ: 07, Februar 2025
Das Fade-In zu Beginn dieses auf einer Doppel-CD oder 3-fach-LP festgehaltenen Konzertmitschnitts ist ein echter Kunstgriff. Wie aus der Ferne wehen uns hier Lieder entgegen. Sie entstammen einer Zeit, die lang hinter uns liegt. Aus einem Land, das lang nicht mehr existiert, haben sie hierher gefunden. Manche haben das Jahr 1989 überlebt, ohne aus dem Bewußtsein zu verschwinden. Andere der 24 Lieder wurden durch die beteiligten Künstler tatsächlich wiederentdeckt und wiederbelebt.
Dirk Zöllner war schon ab Mitte der 80er ein ziemlich bekannter Musiker in der DDR. Mit der Funk Rock Band Chicorée begann sein Weg in der Öffentlichkeit. Kurz darauf gründete er, zusammen mit André Gensicke, der hier auch zu hören ist, Die Zöllner. Diese Band überlebte tatsächlich die wilden Wendezeiten, im Gegensatz zu anderen Bands. Vielleicht auch, weil sie sich erst kurz vor dem Mauerfall gründete. So entstanden bis heute siebzehn Alben.
Als Manuel Schmid geboren wurde, feierten Stern Meissen, auch bekannt als Stern Combo Meissen, ihr Zwanzigjähriges. Irgendwann begann Manuel, den Ostrock für sich zu entdecken. So war es fast zwangsläufig, dass er heute die hauptamtliche Stimme der sächsischen Institution ist.
Vierter im Bunde ist Marek Arnold. Der Multiinstrumentalist entstammt der sächsischen Prog Metal Szene. Zuletzt machten zum Beispiel Seven Steps To The Green Door Furore. Aber er spielte auch mit und für Steve Hackett oder Derek Sherinian.
Das Liedgut der DDR hatte es selten leicht. Klar, es gibt die Klassiker, Gassenhauer, die man in Ost und West heute noch kennt. Ihr wisst, schon, so ne kleine Frau sitzt am Fenster und sieht die sieben Brücken. Doch es gibt die vielen anderen Beispiele. Künstler, die „rübergemacht“ haben, deren Musik landete plötzlich im Giftschrank, durfte nicht mehr gespielt werden. Ich habe zum Beispiel erst nach der Wende die ersten Lieder von Klaus Renft hören dürfen, die ja auch immer verpönt waren. Andere Künstler waren mitten im Aufsteig, als die Mauer geschliffen wurde. Und plötzlich waren sie nicht mehr gefragt.
Umso besser, dass es dieses Projekt gibt. Eigentlich entstand es aus der Not. Während der letzten Seuche, als Touren nicht erlaubt waren, fanden Dirk und Manuel zusammen. Sie spielten unter obigem Titel ein Wohnzimmerkonzert, dass als Stream zu verfolgen war. Der Erfolg gab ihnen Recht. Es sollte mehr draus werden. 2024 gab es eine erste Tour. Dort wurde auch dieses Album mitgeschnitten, das mir gerade mächtig unter die Haut geht.
Dabei kenne ich ein Großteil der Stücke nicht. Klar, ´Wer Die Rose Ehrt´, der Klassiker aus dem Hause Renft, ist mir bekannt. Aber schon bei ´Die Tagesreise´ muss ich passen. Dabei war das am Ende der 70er eine wirklich große Nummer des Ostrock. Aber, als die Bürkholz-Formation verboten wurde, war ich grad aus den Windeln. Der Name Horst Krüger Band kam mir irgendwie noch nie unter und Lift habe ich auch noch nicht wirklich entdeckt. Dabei hat es dieses Stück wahrlich verdient, immer wieder genossen zu werden.
Genauso gehört zum Beispiel ´Gewitterregen´ zu den unbekannteren Liedern von Karat. Unverdient. Auch Holger Biege oder Reinhard Lakomy muss ich mir noch erobern. Letzterer war so vielseitig, er machte von Rock bis Schlager, machte Filmmusik, Kindermusicals und Ballettmusik. Dazu kam, er war einer der ersten in der DDR, die sich mit rein elektronischer Musik beschäftigten. Ich erinnere mich ganz dunkel, als wir mit der Schulklasse ein sogenanntes Schulkonzert besuchten. Genau, mit Lacky und seinen elektronischen Klängen.
Was mir immer wieder auffällt ist die Qualität der Texte im Ostrock. Da steckt viel mehr zwischen den Zeilen, als man auf den ersten Blick meint. Genau dort, zwischen den Zeilen, ist doch einiges an den Wächtern der Zensur vorbeigeschmuggelt worden. Da darf man schon mal genauer hinhören.
An mancher Stelle hätte ich mir ein paar Infos zu den Songs gewünscht. Leider gibt es kein Booklet mit ein paar Liner Notes. Allerdings habe ich auf ein paar Moderationen gehofft. Andererseits, es waren Konzerte, die Leute wollten Musik und keine ewigen Vorträge.
Die starke Präsentation der Lieder sorgt dafür, dass es sich hier nicht um eine Nostalgie- oder gar Ostalgie-Veranstaltung handelt. Auf das nötigste reduziert, einfach die Stimmen, mal Gitarrenbegleitung, etwas öfter schöne perlende Pianoklänge und Mareks Sammlung an Saxophonen in verschiedenen Stimmlagen, manchmal sparsame Percussions, mehr braucht es nicht. Selbst, wenn man nicht dabei war, oder dieses Jahr dabei sein kann, man hört einfach die Spielfreude der vier jungen und junggebliebenen Recken. Dazu eine Prise Humor. Wer kommt schon auf die Idee, anzusagen, dass die Pause kommt, mitten im Song, bevor noch einmal die Zeile „Komm doch einfach mit“ folgt.
Mit ´Seelenlieder II´ scheint mir ein Lied im Programm, das extra hierfür geschrieben wurde. Auf Nachfrage erklärt Marek: „Ursprünglich ist das ein Song, den ich mit unserem Bassisten für unsere Band CYRIL geschrieben habe. Mit Manuel hab ich dann den Song überarbeitet und er hat ihn auf deutsch 2016 zu Ehren Reinhard Fißlers auf seinem Album veröffentlicht – und es war die erste Zusammenarbeit mit Dirk als Gast, daher ist es auch im Programm.“ Natürlich gibt es Klänge von der Stern Combo Meissen. Es wäre auch eine ungeheuerliche Sünde, wenn deren Sänger an Bord ist, diese Band zu ignorieren. Von Silly gibt es ein bewegendes ´Asyl Im Paradies´ und ein ebensolches ´PS´. Zwei Jugendlieder von Dirk Zöllner dürfen auch nicht fehlen. Mit ´Viel Zu Weit´und dem ´Käfer Auf Dem Blatt´ habe auch ich ihn kennen gelernt. Ansonsten machen die vier doch einen größeren Bogen um die ganz großen Namen wie City und Co. Lieber haben sie auf Künstler geschielt, die fast vergessen scheinen, Holger Biege wäre etwa noch zu nennen.
Ich gehe davon aus, dass man auch in Zukunft eher nur den Osten der Republik betourt. Das finde ich jetzt schon schade. Denn auch westlich des ehemaligen antifaschistischen Schutzwalls gibt es sicher Menschen mit dem Bedürfnis nach wirklich schöner Musik, abseits von Mainstream und Partytreiben.
Mario Wolski vergibt 9 von 10 Punkten